7. Kapitel
Nell?« Mikhail versuchte, die Schlafende sanft zu wecken. Er tat es nur ungern, aber ihm blieb keine Wahl. Sie sah müde aus, stellte er fest, als er sich über sie beugte. Sie hatte sich in die Laken gekuschelt, die sie zuvor angehabt hatte. Ihr kastanienbraunes Haar bildete einen wunderschönen Kontrast zu dem weißen Bettzeug.
Er schuldete ihr jetzt schon so viel und würde ihr noch viel mehr schulden, bevor das alles vorbei war. Mikhail hatte gesehen, mit welcher Panik sie auf seinen Vorschlag reagierte. Er hatte sie dennoch weiter unter Druck gesetzt. Ganz konnte er sich eines Gefühls der Neugier nicht erwehren. Was war so schlimm an diesem Dorf, dass sie sich so heftig weigerte, dorthin zurückzukehren? Sie, eine Frau, der so schnell nichts Angst machte?
»Nell?«, sagte er noch einmal, diesmal lauter. »Aufwachen, wir müssen los.« Erst gut zwei Stunden waren vergangen, seit sie dieses Haus betreten hatten, aber mehr Zeit durften sie nicht verlieren. Die Jäger würden die ganze Küste absuchen, sobald sie mit der nächsten Fähre aus Rotterdam wieder zurückgekehrt waren. Dann wollte Mikhail schon längst weit, weit fort sein.
Die Frau regte sich nicht. Sie schlief wie ein Stein! Mikhail begann sie seufzend zu schütteln.
Nichts. Kein Pieps.
»Das soll wohl ein Scherz sein«, brummte er und schüttelte sie heftiger. Nells Kopf flog hin und her, aber ihre Lider zuckten nicht einmal. Besorgt trat Mikhail einen Schritt zurück. Ob sie sich verletzt hatte? Eine Kopfverletzung vielleicht? Aber ihm war nichts aufgefallen.
»Nell, Sie spielen mir doch nichts vor, oder?«
Das einzige Geräusch waren Nells tiefe Atemzüge. Und dann begann sie zu sprechen ... Mikhail beugte sich dicht über sie.
»Du irrst dich ...«
»Nell?« Verwirrt lauschte Mikhail weiter.
»Dieser Kater ist ganz bestimmt größer als der andere ...«
Kater? Was für ein Kater? »Nell, wovon reden Sie?« Mikhail war nun vollkommen verwirrt, ein Zustand, den diese Frau oft bei ihm hervorzurufen schien. Sprach sie wirklich im Schlaf?
»Wo ist er hin? Rasch, Thomas, du musst ihn fangen!«
Thomas? Wer zum Teufel war Thomas? Jetzt reichte es ihm. Verärgert schritt Mikhail zum Waschtisch, griff nach dem vollen Wasserkrug und goss ihn Nell kurzerhand über den Kopf.
»Wa ...!« Nell fuhr prustend und spuckend hoch.
»Guten Morgen. Wer ist Thomas?« Mikhail stand mit verschränkten Armen am Fußende des Betts.
Nell funkelte ihn zornig an. »Musste das sein?«
Er zuckte die Achseln. »Ich habe versucht, Sie zu wecken, aber Sie reagierten nicht. Aber den Namen ›Thomas‹ zu sagen, schien Ihnen keine Mühe zu machen. Wer ist Thomas? Falls Sie einen Mann haben, dann sagen Sie es lieber gleich, denn es würde unseren Plan erheblich komplizieren.«
Erst jetzt, wo er es aussprach, merkte er, wie sehr ihm der Gedanke, Nell könnte verheiratet sein, gegen den Strich ging. Es würde ihren schönen Plan durcheinanderbringen. Aber das allein war es nicht.
Sie blinzelte ihn an wie ein Kalb. Wasser rann ihr über die Stirn und tropfte ihr von der Nasenspitze. »Ich bin nicht verheiratet«, antwortete sie langsam.
»Na gut.« Ein wenig versöhnt - obwohl er beim besten Willen nicht wusste, warum - sagte er: »Ich hätte Ihnen gewiss kein Wasser über den Kopf gegossen, aber wir haben es eilig, und ich konnte Sie einfach nicht wach bekommen.«
Mikhail hatte allmählich das unangenehme Gefühl, überreagiert zu haben. Und das passte ihm gar nicht. Denn selbst wenn sie bereits einen Mann gehabt hätte, dann hätten sie ihren Plan einfach den Gegebenheiten anpassen können. Er hatte ein schlechtes Gewissen.
Nell blinzelte noch ein paarmal. Er hatte den Eindruck, dass sie immer noch nicht so richtig wach war.
»Mein Vater war genauso. Ein richtiger Morgenmuffel.«
Dass es noch mitten in der Nacht war, erwähnte Mikhail nicht.
»Tamburin«, sagte sie, wickelte sich ins Bettlaken und schwang die Beine aus dem Bett.
Mikhail wusste nicht, ob er über ihre wirre Art lachen oder weinen sollte, während er zusah, wie sie mit den Laken und ihrer offensichtlichen Verwirrung kämpfte. Was meinte sie jetzt schon wieder?
Ins Laken gewickelt schlurfte sie ums Bett herum und blieb vor ihm stehen.
»Tamburin?«, wiederholte er.
»Ja. Meine Mutter hatte eins. Das hat mich schneller geweckt als alles andere.« Sie warf einen vielsagenden Blick auf den Wasserkrug.
Er hätte sie zu gerne gefragt, was »alles andere« bedeutete, hatte aber das Gefühl, dass das mehr Fragen als Antworten aufgeworfen hätte. Und dafür hatten sie keine Zeit.
»Na gut. Also, dann werde ich jetzt Nora zu Ihnen reinschicken. Sie hat sich freundlicherweise bereit erklärt, Ihnen eins ihrer Kleider zu überlassen.«
»Ach ja? Einfach so?«, fragte Nell spitz. Sie wirkte jetzt hellwach und musterte ihn herausfordernd. Mikhail lachte.
»Ja, einfach so.«
Sie brauchte ja nicht zu wissen, dass er die Familie großzügig für ihre Hilfe entlohnt und Nora ein wenig extra für das Kleid gegeben hatte.
»Wie gesagt, ich werde Nora zu Ihnen reinschicken. Dann können Sie sich umziehen. Wir dürfen uns den Eselskarren ausleihen und damit zum nächsten Gasthof fahren, der eine halbe Stunde von hier entfernt ist. Dort finden wir dann jemanden, der uns nach Bath bringen wird, hat man mir versichert. Und wie's von dort weitergeht, müssen Sie mir sagen.«
Nell nickte widerwillig.
»Alles wird gut, Nell. Wenn die Geschichte hier vorbei ist werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um Ihnen das Leben Ihrer Träume zu bieten.«
Das Leben meiner Träume. Wie das wohl aussieht?, überlegte Nell, während sie Katjas Köpfchen in ihre Armbeuge bettete. Früher hatte sie sich vor allem Dinge gewünscht: ein kleines Häuschen, genug Geld, um Mann und Kindern ab und zu etwas Gutes zu backen. Aber das waren alte Wünsche. Mit ihrem sechzehnten Lebensjahr hatte sich alles geändert. Jetzt wünschte sie sich keinen Mann mehr, keine Kinder. Nicht bei der Zukunft, die sie erwartete.
Der Tag würde kommen, an dem ihre Visionen so stark wurden, dass sie den Verstand verlor und irrsinnig wurde, so wie ihre Mutter ... Und alle, die sie liebten, würden den bitteren Preis dafür bezahlen müssen.
Nein, es war besser, sie blieb allein.
In diesem Moment ging der Kutschenschlag auf, und Mikhail stieg lächelnd ein, Mitja auf den Armen.
»Der Wirt hat versprochen, den Eselskarren zurückbringen zu lassen. Wir können also unbesorgt Weiterreisen.«
Nell versuchte, sein Lächeln zu erwidern, doch es gelang ihr nicht. Mikhail hatte versprochen, ihr das Leben ihrer Träume zu bieten, aber er brachte sie in ihr Dorf zurück. Und nie mehr dorthin zurückkehren zu müssen war so ziemlich ihr einziger Wunsch gewesen.
Mikhail ließ sich auf die gegenüberliegende Sitzbank sinken, und die Kutsche setzte sich in Bewegung.
»Unglaublich, wie fest sie schlafen«, bemerkte er einen Moment später, den Blick zuerst auf das eine, dann auf das andere Kind gerichtet. Nell musste ihm zustimmen. Die beiden hatten nicht nur die Fahrt zum Gasthof verschlafen, sondern schienen selbst jetzt noch nicht aufwachen zu wollen.
»Obwohl, wem sage ich das. Sie scheinen ja nicht mal dann aufzuwachen, wenn Sie Ihr Lager neben einem Schlachtfeld aufgeschlagen haben.«
Nell hätte eigentlich beleidigt sein sollen, aber Mikhails Lächeln machte ihr das fast unmöglich. Nun gut, er konnte ein Sparring haben, wenn es sein musste! Tatsächlich hatte sie selbst gute Lust dazu, das lenkte sie zumindest von der bevorstehenden Rückkehr ins Dorf ab.
»Schlachtfelder, hm? Wer hätte das gedacht! Und ich habe Sie für einen Gentleman gehalten, der eher an eine Umgebung voller Mingvasen und antiker Gobelins gewöhnt ist.«
Er hob eine Braue. »Mingvasen und Gobelins? Ich dachte immer, dass Leute, die Verallgemeinerungen über das faule Leben der Oberschicht von sich geben, sich eher auf Silberlöffel und Partys konzentrieren.«
Nell wusste selbst, dass sie Verallgemeinerungen von sich gab. Immerhin kannte sie das Leben der Oberschicht aus erster Hand. Und wusste, wie unglücklich manche dieser Aristokraten in Wahrheit waren.
»Meine Cousine Elisabeth macht sich kein bisschen was aus ihren Silberlöffeln, aber wenn man ihren Mingvasen zu nahe kommt, wird sie wild.«
»Aha, verstehe. Oder besser gesagt, nein, das verstehe ich nicht.«
Mikhail betrachtete sie stirnrunzelnd, und Nell wusste, was er dachte: ihre Kleidung, ihre Stellung als Gouvernante und das Cottage, das sie zuvor beschrieben hatte, all das machte den Eindruck, sie würde kein Geld besitzen. Was weiß Gott stimmte. Aber die Armen besaßen gewöhnlich keine reichen Cousinen. Trotzdem hatte Nell im Moment keine Lust, ihm mehr von Elisabeth zu erzählen. Obwohl, wenn sie einen Monat im Dorf verbrachten, würde das Thema früher oder später wieder zur Sprache kommen. Aber nicht jetzt. Um drohenden Fragen aus dem Weg zu gehen, verfiel sie auf das, was ihr Vater immer als »Ablenkungsmanöver« bezeichnet hatte: Sie wechselte zu einem anderen, ebenfalls interessanten Thema.
»Ich dachte, wenn unser Plan klappen soll, dann sollten wir einander vielleicht ein bisschen besser kennen lernen.«
»Ich habe nichts dagegen«, sagte Mikhail. »Was möchten Sie über mich wissen?«
Wo anfangen? Am meisten interessierte sie natürlich, warum diese Verrückten hinter den Kindern her waren, aber sie bezweifelte, dass er diese Frage beantworten würde. Also verfiel sie auf das Nächstbeste, was ihr in den Sinn kam.
»Mikhail«, sagte sie nachdenklich, »ein russischer Name, nicht wahr? Aber Sie klingen nicht wie ein Russe.«
»Sie haben recht, es ist ein russischer Name. Mein Vater war Russe, meine Mutter Engländerin. Aber ich wurde hier in diesem Land geboren. In London.«
Nell war nicht entgangen, dass er in der Vergangenheitsform von seinen Eltern sprach. »Ihre Eltern ...«
»Sind tot«, sagte er beinahe abweisend. »Woher wussten Sie, dass er russisch ist? Mein Name?«
Sie zuckte die Achseln. »Mikhail Feodorowitsch war der Gründer der königlichen Dynastie der Romanows und von 1613 bis 1645 Zar von Russland. Er wurde von der Ständeversammlung zum absoluten Herrscher ernannt, wie hieß die noch mal ...«
»Der Semski Sobor«, antwortete Mikhail überrascht. »Sie kennen sich gut in Geschichte aus; ich bin beeindruckt.«
Nell wurde rot vor Verlegenheit. Lob war sie nicht gewohnt; Beleidigungen und Herabsetzungen, das schon eher. Und es war schon das zweite Mal, dass er ihr ein Kompliment machte - wenn man entzückende Kehrseite dazuzählen konnte ... Bei diesem Gedanken wurde sie gleich noch röter.
»Geschichte war schon immer mein Lieblingsfach. Und mein Vater war Lehrer.« Sie zögerte, beschloss dann jedoch, ebenso offen zu sein wie er. »Meine Eltern leben auch nicht mehr.«
Er schwieg einen Moment, und sie fühlte seinen Blick voll Mitgefühl auf sich ruhen. Dann räusperte er sich und sagte: »Was möchten Sie sonst noch wissen?«
»Leben Sie in London?«
»Ja.«
»Und Sie haben eine Schwester?«
»Ja. Eine. Sie heißt Angelica. Sie ist zwei Jahre älter als ich. Mitja ist ihr Sohn.«
»Und Katja?«, fragte Nell verwirrt. Hatte er nicht behauptet, der Onkel der beiden zu sein? Was hatte das zu bedeuten?
Mikhail massierte seufzend seinen Nasenrücken. »Ich weiß, das macht alles noch komplizierter, aber Katja ist die Tochter meiner Cousine Violet. Eigentlich heißt sie Catherine, aber ich nenne sie Katja.« Er lächelte verlegen, konnte ein aufsteigendes Gefühl von Gereiztheit jedoch nicht unterdrücken.
»Kompliziert ist untertrieben, Mikhail.« Nell zögerte, ihre nächste Frage zu stellen. Aber es musste sein. Obwohl sie wusste, dass sie wahrscheinlich keine Auskunft bekommen würde, sagte sie: »Ich sollte vielleicht nicht fragen, aber warum sind Attentäter hinter den Kindern Ihrer Schwester und Ihrer Cousine her?«
»Nell, das darf ich Ihnen leider nicht sagen.« Er wirkte aufrichtig zerknirscht, aber sie wurde trotzdem zornig.
»Ach ja? Ich darf also mein Leben für Sie und die Kinder riskieren, ich darf Sie einen Monat lang verstecken, aber ich darf nicht erfahren, warum. Na wunderbar.«
Mikhail schwieg einen Moment, wandte den Blick ab und schaute aus dem Kutschfenster in die Dunkelheit hinaus. »Manche Dinge sind einfach nicht fair, aber so ist es nun mal.«
»Aha.« Mehr gab es dazu nicht zu sagen, aber Nell war wütend. Sie hätte jetzt gerne etwas richtig Gemeines gesagt, aber alles, was ihr einfiel, war: »Nun, Sie können jedenfalls nicht als Mikhail, der reiche und mysteriöse Fremde im Dorf herumlaufen, so viel ist sicher.«
Mikhail hob eine Braue. »Nein?«
»Nein. Dort gibt es keine Leute, die nicht arbeiten müssen.«
»Sie glauben also, dass ich nichts tue?«
Um ehrlich zu sein, sie hatte keine Ahnung, aber im Moment war ihr das egal; schließlich war sie sauer auf ihn. Sie zuckte mit den Schultern.
»Nun gut.« Er schüttelte den Kopf und schenkte ihr sein typisches charmantes Lächeln. Sie hatte noch nie einen Mann kennen gelernt, der so oft lächelte.
»Aber Sie haben recht, ich brauche eine neue Identität. Also, wer soll ich sein, Nell?«
Ein Schurke? Ein Räuber? Ein Dieb? Oder noch besser: ein Dummkopf! Nell wollte etwas vorschlagen, das ihn verletzte, aber ihr fiel nichts ein, und sie gab es rasch wieder auf. Frust und Wut, das nützte ohnehin nichts. Er würde ihr deswegen auch nicht mehr verraten. Und sie zerbrach sich damit umsonst den Kopf.
»Zunächst mal sollten Sie vielleicht Heber einen englischen Namen annehmen. Man wird sowieso kaum glauben, dass ich verheiratet bin, geschweige denn mit einem Russen. Oder Halbrussen. Die werden sich einen Ast lachen.«
»Warum sollte man nicht glauben, dass Sie verheiratet sind?«, fragte Mikhail erstaunt. Nell beschloss, ihm nichts von George zu erzählen. Er erzählte ihr ja auch nichts! Außerdem würde er früh genug davon erfahren. Dem Dorfklatsch entkam keiner. Erneut zuckte sie nur mit den Schultern.
»Ich würde mich Michael nennen, wenn ich Sie wäre. Das ist ja ohnehin Ihr Name, daran gewöhnen Sie sich schnell.«
Er runzelte die Stirn, um ihr zu verstehen zu geben, wie genau er merkte, dass sie seiner Frage ausgewichen war.
»Also gut. Keine schlechte Idee, auf diese Weise falle ich weniger auf«, sagte er schließlich. »Aber das wäre nur der Name. Was soll ich sonst über mich sagen?«
Nell überlegte. »Um ehrlich zu sein, gibt es in unserer Gegend nicht viele Aristokraten. Sie würden weniger auffallen, wenn Sie irgendeinen Beruf hätten und nicht einfach als reicher Lebemann im Dorf auftauchten, der dem Nichtstun frönt, aber trotzdem in meiner bescheidenen Hütte wohnen will.«
Er hob die Braue. »Sie haben wirklich einen Hang zum Sarkasmus, nicht?«
Nell überlegte und kam zu dem Schluss, dass er vermutlich recht hatte.
»Sie könnten sich als Schullehrer ausgeben. Mein Vater war Lehrer ... außerdem würde das erklären, warum Sie so gebildet sind - das merkt man nämlich schon an Ihrer Ausdrucksweise. Es würde Ihre gepflegte Sprache und Ihren umfangreichen Wortschatz erklären. Außerdem gibt es nur eine Schule im Dorf, es besteht also keine Gefahr, dass Sie wirklich arbeiten müssten.« Nell hatte sich mittlerweile richtig für ihre Idee erwärmt. »Außerdem könnten wir das als Vorwand nehmen, nach einem Monat schon wieder abzureisen! Wunderbar! Es passt alles.« Nell schaute Mikhail stolz an, doch dieser musterte sie nur mit einem eigenartigen Ausdruck in den Augen.
Als sich die Stille ausdehnte, stammelte sie: »Also ... ja, ich glaube, das würde passen. Jetzt müssen wir uns nur noch überlegen, wie und wo wir uns kennen gelernt haben.«
»Es war Liebe auf den ersten Blick«, sagte Mikhail langsam. »Sie waren Gouvernante bei einer Familie, die in London zu Besuch war. Wir sind uns an Ihrem freien Tag begegnet, Sie saßen auf einer Bank im Park und lasen.«
»Was ihr wollt«, sagte Nell eifrig und konnte sich eines eigenartigen Gefühls im Magen nicht ganz erwehren. Warum schaute er sie so an?
»Shakespeare«, stimmte er zu. »Sie lasen Shakespeare, und ich konnte mich nicht an Ihnen satt sehen. Ihr dichtes, kastanienbraunes Haar, die Honigaugen, ich war wie verzaubert. Und ehe ich mich versah, habe ich Ihnen einen Heiratsantrag gemacht.«
In der Kutsche war es auf einmal viel zu heiß. Nell hatte das Gefühl zu fallen. In seinen Augen zu versinken, in seiner sinnlichen, träumerischen Stimme, in der Welt, die er schilderte ... Dann gab es einen Ruck, und sie fiel tatsächlich und landete beinahe in seinen Armen.
Mikhail half ihr, sich wieder aufzusetzen.
»Danke. Es geht schon.« Nell wich zurück und legte sich die kleine Katja zurecht.
»Vielleicht sollten Sie mir jetzt ein wenig von sich erzählen«, schlug Mikhail vor, selbst ein wenig verlegen.
»Da gibt's nicht viel zu erzählen. Mein Vater war Schullehrer, meine Mutter liebte ihren Garten und hat wundervolles Gemüse gezogen, und dann gibt es noch Morag, die schon meine Mutter aufgezogen hat und die bei uns lebte. Sie ist stumm. Jedenfalls sagt sie nie ein Wort.«
Die Erinnerung an Morag war schmerzhaft. Sie hatte die alte Frau geliebt, ihr vertraut, aber Morag hatte nichts unternommen, als ihre Mutter krank wurde, hatte nicht mal versucht zu helfen. Danach hatte Nell jedes Vertrauen in sie verloren.
Sie holte tief Luft, hoffte, dass man ihr ihre Gefühle nicht allzu deutlich ansah.
»Dann sind meine Eltern gestorben und ich erlaubte Morag, weiter im Haus wohnen zu bleiben. Ich selbst bin fortgegangen. Ich weiß nicht, ob sie jetzt noch dort wohnt oder ob sie wieder in die schottischen Highlands zurückgekehrt ist, wo sie herkommt... wie gesagt, sie ist stumm.«
»Verstehe. Und muss ich sonst noch etwas wissen, bevor wir das Dorf erreichen?«, fragte Mikhail skeptisch. Er schien ihr ihre Geschichte nicht ganz abzukaufen und Nell konnte es ihm nicht verübeln.
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete sie, »aber falls ich was vergessen haben sollte - die Dorfbewohner werden es Ihnen sicher verraten.«
Ja, es würde nicht lange dauern, bis sie ihm all die hässlichen Geschichten über sie erzählen würden. Sollten sie doch. Sollte er es ruhig von anderen erfahren. Sollte er glauben, was er wollte. Ihr war's egal.